Grenzenlos trainieren: Wenn die Luft kein Widerstand mehr ist

Alles ausreizen

Dass das Training heute ¨¹berhaupt stattfinden kann, ist dem guten Wetter zu verdanken. Denn der Airshield wurde auf Wunsch der Athletinnen f¨¹r das Trainieren unter warmen und trockenen Bedingungen optimiert. ?Es ist toll, dass wir das Training durchf¨¹hren k?nnen, nachdem es wegen Regens mehrmals verschoben werden musste?, sagt G¨¦raldine Frey. Das Zeitfenster, das ihr bis zu den Olympischen Spielen in Paris noch bleibt, wird immer enger. Drei Jahre hat sie sich auf dieses grosse Ziel vorbereitet. ?In Paris will ich meine H?chstleistung erreichen?, sagt die Zugerin vor dem Training. ?Darum m?chte ich jetzt alles, was mich schneller macht, ausreizen.?

Beim Laufen im Windschatten des Airshield handelt es sich um eine neuere Form des ?bergeschwindigkeitstrainings: ein Schnelligkeitstraining, bei dem die Bewegungsgeschwindigkeit durch den Einsatz von Ger?ten gesteigert wird und Leistungsgrenzen verschoben werden k?nnen. Doch bis Athletin und Ger?te f¨¹r das Training mit dem Airshield bereit sind, werden im Stadion Letzigrund noch rund zwei Stunden vergehen. Mittlerweile ist Andrea Carron, ETH-Forscher und Leiter des Airshield-Projekts, eingetroffen. Er vergewissert sich, dass der Elektro-Gokart, der den Windschutz zieht, vollst?ndig aufgeladen ist, die Verbindungskabel zum Airshield gelegt sind und die hochkomplexe Technik funktioniert. Auch Melanie Zeilinger, ETH-Professorin am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik, ist vor Ort. Gespannt erwartet sie den ersten Lauf: ?Wir haben den Airshield in nur wenigen Monaten entwickelt. Die Freude, dass nun Athletinnen damit trainieren k?nnen, ist gross.?

Trainieren mit ?bergeschwindigkeit

Doch was genau ist das Ziel dieser Neuentwicklung? ?Wir wollen herausfinden, welche Vorteile das Training mit ?bergeschwindigkeit hat ¨C auch gegen¨¹ber anderen Ger?ten?, erkl?rt Andrea Carron. Beim Schnelligkeitstraining sollen Athletinnen und Athleten Bewegungsabl?ufe optimieren, verinnerlichen und die H?chstleistung sp?ter in einer Wettkampfsituation wieder abrufen k?nnen. Das Trainieren mit dem Airshield reduziert den Luftwiderstand massiv. Denn je schneller jemand rennt, desto gr?sser wird der Widerstand ¨C und das im Quadrat. Gegen¨¹ber einer anderen Methode des ?bergeschwindigkeitstrainings, bei der die L?uferin von einem am Rumpf befestigten Kabel nach vorne gezogen wird, hat der Airshield f¨¹r G¨¦raldine Frey klare Vorteile: Sie kann schneller als normalerweise m?glich sprinten und dabei die nat¨¹rliche Laufposition behalten. Und sie wird nicht durch einen Kabelzug zus?tzlich beschleunigt, sondern kann die Geschwindigkeit ganz aus eigener Kraft erreichen.

Beim jetzigen Setting bestehend aus Gokart und Airshield handelt es sich um einen Prototyp. Begonnen hatte alles mit einer Anfrage der Coaches des Schweizer Sprinterinnenteams, zu dem neben G¨¦raldine Frey auch die amtierende Europameisterin Mujinga Kambundji geh?rt. Sie wollten wissen, ob die ETH Z¨¹rich bereit sei, einen Airshield zu entwickeln, mit dem Topsprinterinnen und -sprinter trainieren und bestenfalls ihre Wettkampfleistung verbessern k?nnen. Entstanden ist ein Projekt, das Wissenschaft, Sport und Technologie in sich vereint. Geleitet wird es von ETH-Professorin Melanie Zeilinger und ETH-Professor Emilio Frazzoli, der den Gokart entwickelt hatte, welcher nun zum Ziehen des Airshield verwendet wird. Der Algorithmus, der die automatische Anpassung des Airshield an die L?uferin erm?glicht, wurde ebenfalls von Forschenden des Instituts f¨¹r Dynamische Systeme und Regelungstechnik erstellt. Sp?ter stiess mit ETH-Professorin Christina Spengler eine Fachperson aus den Gesundheitswissenschaften zum Projektteam, die zus?tzlich die sportwissenschaftlichen Aspekte des neuen Trainingssystems untersucht.

Im Stadion ist die Temperatur derweil weiter angestiegen. W?hrend das Reinigungspersonal die leeren Trib¨¹nenpl?tze mit Wasserschl?uchen abspritzt, beginnt f¨¹r G¨¦raldine Frey und ihre beiden Teamkollegen die Aufw?rmphase. Diese ist zentral, um Verletzungen vorbeugen zu k?nnen ¨C auch bei Aussentemperaturen von 30 Grad Celsius.

Studium und Sportkarriere

Frey war schon in der Primarschule sportbegeistert. Ihre Leichtathletiklaufbahn begann in der Kantonsschule Zug. Sp?ter entdeckte sie den Reiz am Profisportlersein, doch hundert Prozent auf ihre Sportlerkarriere setzen wollte sie nicht: Sie entschied sich f¨¹r ein Studium der Pharmazeutischen Wissenschaften an der ETH und begann nach ihrem Bachelorabschluss noch ein Masterstudium. ?Die ETH ist sportfreundlich und kommt mir als Kadermitglied entgegen?, sagt Frey, ?das sch?tze ich sehr.? In einem Jahr will sie den Master abschliessen, doch bis dahin m?chte sie im Hinblick auf die Olympischen Spiele nochmals als Sprinterin Vollgas geben.

Am Rande der Laufbahn richtet sich Christina Spengler ein. Auf einem Schwedenkasten steht ein Laptop, wo die ETH-Professorin ein Video eines Trainingslaufs anschaut. Sie zeigt dabei, wie das ?Andocken? der Athletin an das Trainingsger?t abl?uft: ?Die Athletin rennt los, der Gokart setzt sich in Bewegung, ist aber noch langsamer als die L?uferin. Ein Sensor im Airshield erkennt dies ¨C das Fahrzeug beschleunigt.? Wie hoch die Beschleunigung sein muss, damit die ideale Distanz zwischen L?uferin und Airshield eingehalten werden kann, berechnet ein Algorithmus aufgrund des Abstands und der Geschwindigkeit der L?uferin. Und kontrolliert so direkt die Geschwindigkeit des Gokarts. Der Fahrer ¨¹bernimmt lediglich die Steuerung.

Technologie trifft Sport

Doch nun wird Spengler auf der Bahn gebraucht. Sie legt spezielle Sohlen, die der ETH-Biomechaniker Roland Zemp mit seinem Luzerner Start-up entwickelt hat, in die Laufschuhe von G¨¦raldine Frey und befestigt zwei Sensoren an ihrem unteren R¨¹cken. Diese zeichnen die Bewegungen der Athletin auf, w?hrend die Sensorsohlen die Druckverteilung beim Laufen messen. ?Wir wollen die Laufdynamik und die Biomechanik mit neuen Tools erfassen?, so Spengler. Im Airshield befindet sich zwar eine Frontalkamera, die den Lauf aufzeichnet ¨C mit den Sohlen und den Sensoren lassen sich jedoch noch diverse weitere Messparameter erfassen, die wichtig sind, um die Sprints mit und ohne Airshield und auch mit der Seilzugtrainingsmethode vergleichen zu k?nnen.

Aufgew?rmt und mit Sensoren versehen: G¨¦raldine Frey ist bereit f¨¹r den ersten Lauf. Nach einigen Wochen Pause wird sie heute zum dritten Mal mit dem Airshield trainieren. ?Am Anfang muss ich jeweils wieder etwas Vertrauen gewinnen, dass das Ger?t auch wirklich mit mir mitgeht. Aber dann kann ich voll beschleunigen, das macht richtig Spass.?

Frey rennt los, ihr Trainer Lucio di Tizio feuert sie an: ?Allez, G¨¦ry, come on ¨C jetzt!? Nach siebzig Metern erreicht sie das Ziel. Frey ist zufrieden mit der Zeit des ersten Laufs. Die Geschwindigkeitsmaximierung bringe vielleicht nur einen Zentimeter pro Schritt, aber bei f¨¹nfzig Schritten sei das schon ein halber Meter. Das Laufen ohne Luftwiderstand sei ein unglaubliches Gef¨¹hl, sagt sie: ?Fast so, als ob man fliegen w¨¹rde.?