«Unsere Städte und Wohnungen sind so gebaut, dass wir uns abhängig fühlen»

Was in der Architektur als Norm gilt, bedeutet für viele Menschen Barrieren und Hindernisse. ?ber Wege zu einer Architektur, die nicht ausschliesst, sondern verbindet.

Modell eines Hauses
Studierende von Momoyo Kaijima untersuchen, wie Architektur Barrieren zwischen d?rflichem und st?dtischem Leben abbauen kann. (Bild: ?From Oaks to Barrels?, Aude Sahli)

?Architektur kann brutal sein?, sagt Anna Puigjaner. St?ndig unterteile sie die Menschen – in jene, die k?nnen, und in jene, die nicht k?nnen. Die spanische Architektin führt aus: ?Nehmen wir eine Treppe als Beispiel. Allein dieses architektonische Element unterteilt die Gesellschaft in jene, die hinauf- oder hinuntersteigen k?nnen, und jene, die es nicht k?nnen.? Das, was in der Architektur bisher als Norm gilt, ist nur für eine Minderheit ideal. Für viele Menschen stellen die baulichen Standards gar ein unüberwindbares Hindernis dar. ?Architektur ist nicht neutral und hat Auswirkungen auf die Gesellschaft?, sagt Puigjaner. ?Und leider hat die Architektur in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Vorurteilen best?tigt und reproduziert.?

Wohnungsnorm für Minderheit

Dass sich die meisten Wohnungen nach wie vor nach der Kernfamilie ausrichten – mit einem Wohnzimmer als Treffpunkt für alle, einem bis zwei kleineren Schlafzimmern für Kinder und einem ger?umigeren Zimmer für die Eltern, best?tigt zum Beispiel das Vorurteil, dass dies die vorherrschende Wohnkonstellation ist. ?In der Schweiz, aber auch in meiner Heimat Spanien lebt nur rund ein Viertel der Menschen in einer Kernfamilie. Was passiert mit den anderen drei Vierteln, die nicht in diese Lebensform passen??, fragt Puigjaner. Alleinlebende, Freunde, die zusammenwohnen, kinderlose Paare, Grossfamilien, Patchwork-Familien, queere Familien, Alleinerziehende: Trotz vielf?ltigen Lebensformen gilt seit Jahrzehnten derselbe Wohnraum als Standard. ?Das erzeugt eine Menge Vorurteile. Und festigt Machtstrukturen – auch innerhalb der Familie. Allein dadurch, dass die Eltern mehr Platz haben, scheinen sie wichtiger als die Kinder?, sagt Puigjaner.

?Globe? Eine Welt ohne Barrieren

Globe 24/03 Titelblatt

Dieser Text ist in der Ausgabe 24/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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Architektur, die trennt

Puigjaner setzt sich ein für eine Architektur, die nicht trennt. Anfang 2023 kam sie als Professorin für Architektur und Care an die ETH Zürich. Eines ihrer Hauptthemen ist die alternde Gesellschaft und die damit verbundene Zunahme von Gesundheitsproblemen und Behinderungen. ?Pflege und Betreuung stecken weltweit in der Krise und brauchen neue Ans?tze?, sagt sie. ?Und die Architektur ist für einen bedeutenden Teil der Probleme in diesem Bereich verantwortlich.?

Konkret wird an ihrem Lehrstuhl untersucht, wie sich Pflege und Betreuung, aber auch allt?gliche Besorgungen und Bedürfnisse auf Individuen und die ganze Gesellschaft auswirken und was die Architektur dazu beitragen kann, Barrieren in diesem Bereich abzubauen. ?K?rperpflege, die Einnahme von Medikamenten, aber auch banalere T?tigkeiten wie Kochen, Putzen oder Waschen finden nach wie vor im privaten Bereich statt. Unsere H?user, D?rfer und St?dte wurden dementsprechend gebaut?, führt Puigjaner aus.

Damit orientiert sich also auch die Care-Arbeit (oder Sorgearbeit), die Betreuung, Pflege und Hausarbeit umfasst, weiterhin am Modell der Kernfamilie – mit Familienmitgliedern, die unter einem Dach wohnen und sich umeinander kümmern. Diese Annahme, die nur in den wenigsten F?llen der tats?chlichen Situation alternder Menschen entspricht, hat weitreichende Folgen: ?In unserer alternden Gesellschaft ist ein Grossteil der Menschen nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen und allt?gliche Arbeiten und Pflegepraktiken so auszuführen, wie es einst vorgesehen war. Wir haben eine gebaute Umwelt geschaffen, die viele ungleiche Abh?ngigkeiten erzeugt, und das muss neu definiert werden.?

Vergr?sserte Ansicht: Bild einer japanischen Küche in der drei Frauen am Arbeiten sind.
?ffentliche Küchen wie diese hier in Tokio vermindern Abh?ngigkeiten. (Bild: MAIO)

Hürden im Alltag

?Die veralteten Strukturen setzen die Gesundheitsversorgung und gleichzeitig uns als Bürger:innen unter grossen Druck?, sagt die Architekturprofessorin. ?Sie erzeugen eine klare Trennung innerhalb der Gesellschaft, zwischen abh?ngigen und unabh?ngigen K?rpern – oder anders gesagt: zwischen f?hig oder unf?hig.?

Viele ?ltere Menschen müssen für gewisse Besorgungen, Pflege- und Betreuungsangebote, die allein nicht (mehr) m?glich sind, ihre eigenen vier W?nde verlassen und zum Teil lange Wege zurücklegen. Für viele sei schon Kochen eine Hürde im Alltag, weil sie k?rperlich oder geistig dazu nicht in der Lage sind. ?Wie k?nnen wir also unsere D?rfer und St?dte so gestalten, dass die Binarit?t zwischen abh?ngigen K?rpern und denen, die Care-Arbeit leisten, aufgehoben wird und fruchtbare Interdependenzen geschaffen werden k?nnen??, fragt Puigjaner.

Abh?ngig sind aber nicht nur ?ltere oder andere k?rperlich eingeschr?nkte Menschen: Wir alle k?nnen im Lauf eines Lebens verschiedene Arten von Abh?ngigkeiten haben, sei es als Kind, als Eltern, wenn wir ein gesundheitliches Problem haben, wenn wir allein leben.

Barrierefreie Lehre

Auch die ETH Zürich hat sich zum Ziel gesetzt, dereinst ganz barrierefrei zu sein. Ein Grossteil ihrer Geb?ude für Forschung und Lehre entspricht bereits heute den gesetzlichen Vorschriften. Inklusion und Teilhabem?glichkeiten von allen Menschen bedeuten aber nicht nur hindernisfreie Mobilit?t und Navigation auf dem Gel?nde und in den Geb?uden, sondern auch, dass Bildung barrierefrei vermittelt werden kann. Deshalb wurde das Teilprojekt ?Digitale Barrierefreiheit? ins Leben gerufen. Es ist Teil des Programms ?Hindernisfreie ETH? und hat zum Ziel, die barrierefreie Lehre an der ETH mithilfe digitaler Lernmaterialien sicherzustellen.

Sorgearbeit ?ffentlicher machen

Care-Arbeit müsse neu definiert werden – und aus dem Privaten ins ?ffentliche rücken, fordert Puigjaner: ?Wir sollten Alltagst?tigkeiten und -besorgungen, bei denen Menschen auf andere angewiesen sind, als Teil der Stadtplanung, als ?ffentliche Infrastruktur betrachten. So, wie wir dies zum Beispiel bei Bibliotheken oder bei der Wasser- und Stromversorgung tun.? Wenn Sorgearbeit nicht mehr im Privaten ?verborgen? bleibt, kann das viele soziale Bedürfnisse befriedigen – und Barrieren für einen immer gr?sser werdenden Teil der Bev?lkerung abbauen.

Es gehe darum, Infrastrukturen zu f?rdern, die Alltagsbesorgungen und Selbstpflege für alle erleichtern, sagt die Professorin. Zum Beispiel indem sie einfach zu erreichen sind und m?glichst viele M?glichkeiten unter einem Dach vereinen. Gleichzeitig k?nnte auch der wirtschaftliche Druck, der heute auf dem Gesundheitssystem lastet, vermindert werden und Pflegeinstitutionen wie die Spitex entlasten.

Inklusion durch ?ffentliche Küchen

Puigjaner hat untersucht, wie ?ffentliche Küchen und Versorgungszentren Menschen miteinander verbinden. Zum Beispiel in Japan, wo es wie in der Schweiz immer mehr ?ltere und Alleinlebende gibt: Nach dem verheerenden Erdbeben von Fukushima 2011 fühlten sich viele Menschen hilflos und sozial verloren. Aus der Not heraus entstand in Tokio eine neue Art ?ffentlicher Küchen, die wie Gemeinschaftszentren funktionieren und allen offenstehen. ?Diese urbanen Küchen dienen als Treffpunkt unter Nachbarn, zum gemeinsamen Kochen und Essen. Sie ersetzen die privaten Wohnküchen nicht, aber sie erg?nzen sie.?

In Singapur begann die Regierung vor ein paar Jahren damit, ?ffentliche Küchen einzurichten. Dadurch sanken die Staatsausgaben für ?ltere Menschen erheblich. ?Die Nutzenden dieser Küchen unterstützen sich gegenseitig. Das vermindert einseitige Abh?ngigkeiten enorm?, erkl?rt Puigjaner. ?Letztendlich geht es um passive Gesundheitsfürsorge und wie man sie in die Siedlungsplanung integrieren kann.?

Zu den Personen

externe SeiteAnna Puigjaner ist Professorin für Architektur und Care am Departement Architektur. Die Professur wurde erm?glicht durch die grosszügige Unterstützung der Stavros Niarchos Foundation (SNF).

Momoyo Kaijima ist Professorin für Architectural Behaviorology am Departement Architektur der ETH Zürich.

Zur Gewohnheit machen

Einen Schritt weiter geht Bogotá mit den ?Manzanas del Cuidado?. Die Beh?rden von Kolumbiens Hauptstadt wandelten wenig besuchte Bibliotheken in ?ffentliche Versorgungszentren um. Dort gibt es zum Beispiel einen W?scheservice, ?ffentliche Kinderbetreuung, eine Küche für alle, R?ume, wo Medikamente erh?ltlich sind und wo sie eingenommen werden k?nnen.

Diese Manzanas del Cuidado seien ein grosser Erfolg und k?nnten in Europa als Vorbild dienen, sagt die Architekturprofessorin. ?Unsere St?dte, H?user und Wohnungen sind heutzutage so gebaut, dass sie uns das Gefühl geben, abh?ngig zu sein. Dass wir, wenn wir etwas in den eigenen vier W?nden nicht meistern k?nnen, an einen besonderen Ort gehen müssen. Wie sehr würde sich unsere Gesellschaft ver?ndern, wenn wir das in unsere t?glichen Gewohnheiten integrieren würden? Wenn man frei entscheiden k?nnte, zu Hause oder in der ?ffentlichen Küche zu kochen, auch wenn man es noch selbst kann. Dann würde man am Tag X, an dem man Unterstützung braucht, nicht das Gefühl haben, von etwas oder jemandem abh?ngig zu sein. Man setzt einfach seine Routine fort und ist nach wie vor mit anderen Menschen in Beziehung.?

Schule neu denken

Auch für Momoyo Kaijima stehen Gesellschaft und Architektur in einer Wechselwirkung zueinander. ?Die Architekturbranche, wie wir sie heute kennen, existiert schon seit rund 150 Jahren. Die etablierten Strukturen und Bauprozesse waren lange Zeit richtig. Inzwischen gibt es aber viele Anhaltspunkte, wie sehr Architektur Menschen ausschliesst und welche Auswirkungen das auf Einzelne, aber auch auf die Gesellschaft hat?, sagt die japanische ETH-Professorin.

Wie ihre Kollegin Puigjaner hat sie es sich zum Ziel gemacht, Normen zu hinterfragen und Barrieren zu überwinden – mit Fokus auf ?ffentlichen Geb?uden wie Verwaltungen und Schulen. Klassenzimmer h?tten sich über die Jahrzehnte kaum ver?ndert, und die Lehrperson steht immer noch vor der Klasse. Das sei nicht mehr zeitgem?ss, sagt Kaijima. ?Sowohl Lehrer:innen als auch Schüler:innen haben die Aufgabe, gemeinsam eine bestimmte Lernaufgabe zu erledigen. Dafür brauchen sie keine starre Struktur. Statt sich gegenüber zu sein, k?nnten sie zum Beispiel in kleinen Gruppen diskutieren oder sich austauschen – und so die unsichtbare Barriere zwischen ihnen durchbrechen?, regt die Japanerin an. Die Inhalte, die eine moderne Schule vermitteln m?chte, müssen sich auch auf die Architektur auswirken – auf die Form des Klassenzimmers und des Schulgeb?udes selbst.

Ein Ort, an dem man lerne, müsse sich ja nicht nur an Kindern und Lehrpersonen orientieren, betont die ETH-Professorin. Sowohl in der Schweiz als auch in Japan wird die Bev?lkerung ?lter, die Zahl der Kinder nimmt ab, besonders in l?ndlichen Gebieten. ?Das sorgt in der Zukunft zwar für Probleme. Aber gleichzeitig ist das eine wunderbare Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir die Qualit?t des Lernens definieren m?chten und was wir als Gesellschaft voneinander lernen k?nnen. Und wie ein Geb?ude für verschiedene Generationen zug?nglich und nutzbar sein kann, von kleinen Kindern bis zu Seniorinnen und Senioren.?

Modell eines Kiosks
Studierendenprojekt ?Care Kiosk? von Anna Puigjaner: Sorgearbeit soll weniger privat und für alle ?ffentlich zug?nglich sein. (Bild: c-a-r-e.xyz)

Kaijima geht es nicht nur darum, Generationen miteinander zu verbinden, sondern grunds?tzlich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensweisen. Gemeinsam mit Studierenden untersucht sie an der ETH Zürich deshalb, wie verschiedene Welten interagieren und dadurch Barrieren und Berührungs?ngste abgebaut werden k?nnen.

Inklusion für alle

Die Bauordnungen und Baugesetze in der Schweiz regeln bisher vor allem die physische Barrierefreiheit, zum Beispiel die Entfernung, die eine Person im Rollstuhl maximal überwinden soll. Es gebe aber noch keine Vorschriften zur Barrierefreiheit für neurodivergente Menschen, bem?ngeln beide ETH-Professorinnen. ?In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr psychische Erkrankungen und Auff?lligkeiten, und Architektur muss darauf reagieren?, fordert Puigjaner. ?Es braucht zum Beispiel R?ume, die visuell wenig stimulierend sind und eine klare Orientierung m?glich machen, verschiedene Zu- und Ausg?nge oder Nischen, um sich zurückzuziehen.?

Im Frühjahrssemester gab es am ?Architektur und Care?-Lehrstuhl einen Kurs zusammen mit dem Theater Hora, in dem Schauspieler:innen mit kognitiven Behinderungen arbeiten. Gemeinsam entwarfen sie Modelle einer Stadt, die für m?glichst alle Menschen inklusiv ist, unabh?ngig von Behinderungen und Neurodivergenzen. ?Die Zusammenarbeit war sehr wertvoll und erm?glichte es den Studierenden, über Siedlungsr?ume und Inklusion nachzudenken und darüber, was sich in der Architektur ver?ndern muss?, sagt Puigjaner.

Rasches Handeln n?tig

Die heutigen Studierenden seien sehr offen für das Thema Inklusion und sehen die Notwendigkeit für ein Umdenken, sagen die beiden Architektinnen. Das ist auch n?tig. Denn in den n?chsten zwanzig Jahren wird es viele Ver?nderungen in der Architektur geben, da sind sich beide Professorinnen einig.

Natürlich k?nne nicht alles abgerissen und neu aufgebaut werden, sagt Kaijima. ?Wir müssen he?rausfinden, wie wir unsere bestehenden Strukturen sanieren und für m?glichst alle physisch zug?nglich machen k?nnen.? Und Puigjaner fügt an: ?Wir müssen schnell denken, weil die demografischen Ver?nderungen be?ngstigend schnell kommen. Und die Mühlen der Architektur mahlen sehr langsam. Also müssen wenigstens wir uns beeilen.?

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